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Die Kontrolluntersuchung bei der Frauenärztin oder dem Frauenarzt ist für viele Personen einer der unangenehmeren Termine im Jahr. Das Fachpersonal in den gynäkologischen Praxen sollte deshalb besonders sensibel auf Bedürfnisse eingehen. Dr. Claudia Schumann-Doermer, Gynäkologin, Psychotherapeutin und Mitautorin des Leitfadens, erklärt im Interview, wie der Leitfaden dabei helfen soll und warum er nötig ist.

Frau Dr. Schumann-Doermer, Sie haben mit Ihrer Kollegin Dr. Colette Gras einen Leitfaden für die gynäkologische Unterleibsuntersuchung geschrieben. Was macht die Situation „auf dem Stuhl“ so besonders, dass Ärztinnen und Ärzte einen Leitfaden dafür brauchen?

Claudia Schumann-Doermer: Die gynäkologische Untersuchung kann mit Angst und Scham verbunden sein. Diese Routineuntersuchung – für mich als Ärztin – ist für die untersuchte Person eine intime Ausnahmesituation. Da besteht ein gewisses Machtgefälle zwischen der untersuchten Person und der untersuchenden Person. Wenn ich das ignoriere, können unangenehme Kommentare die untersuchte Person irritieren und im schlimmsten Fall diskriminieren. Dafür müssen wir Gynäkologinnen und Gynäkologen besonders sensibel sein und die Untersuchungssituation so angenehm wie möglich gestalten.

Wie können Sie die Situation so angenehm wie möglich gestalten?

Schumann-Doermer: Ich muss mir immer wieder die mögliche Scham, die Angst vor Diskriminierung, die Sorge vor Schmerzen klar machen, dann bin ich sensibel. Dafür brauche ich eine Grundhaltung des Respektes. Das bedeutet, dass ich die untersuchte Person einbeziehe und sie jedem Schritt zustimmen kann. Dazu gehört auch, dass ich jeden Untersuchungsschritt ankündige, damit die Person genau weiß, was gerade passiert. So gebe ich der untersuchten Person die Möglichkeit, „nein“ oder „stopp“ zu sagen, beispielsweise mit einem Handsignal. Wenn ich das alles mitdenke, handle ich viel sensibler. Wenn ich beispielsweise anfangs sage: „Sie brauchen sich nur untenrum auszuziehen“, dann ist der Weg von der Kabine zum Stuhl möglichst wenig entblößend.

Was sind absolute No-Gos bei der gynäkologischen Behandlung?

Schumann-Doermer: Eine Untersuchung kann für die untersuchte Person eine sehr intime Situation sein. Absolut tabu ist, die Intimität in irgendeiner Form zu missachten im Sinne von übergriffigen Bemerkungen wie „Sie haben aber schöne Brüste, obwohl Sie schon so lange gestillt haben“. Oder wenn das Untersuchungszimmer so eingerichtet ist, dass der Untersuchungsstuhl in Richtung Türe zeigt, oder wenn jemand unangemeldet reinkommt. Das kann für die untersuchte Person sehr unangenehm sein. Es ist entscheidend, dass ich klar und sachlich bin in dem, was ich tue. Es ist auch wichtig, dass wir in der Praxis jegliche Form der Diskriminierung vermeiden.

Wie meinen Sie das?

Schumann-Doermer: Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Diskriminierung gegenüber Personen, die nicht dem sogenannten Normalbild entsprechen, also Menschen aus anderen Kulturen, gegenüber Menschen mit einer Behinderung oder gegenüber Menschen, die sich nicht eindeutig dem binären [Geschlechter-]System zuordnen lassen, gegenüber Sexarbeiterinnen, gegenüber mehrgewichtigen Menschen, gegenüber LGBTQIA+-Menschen, gegenüber älteren, langsamen. Alle Menschen die „anders“ sind, können Opfer von Diskriminierungen in der Praxis sein.

Haben Sie dafür Beispiele?

Schumann-Doermer: Zum Beispiel ist es für den respektvollen Umgang wichtig, Personen etwa mit ihrem bevorzugten Gender anzusprechen – vom ganzen Team. Das ist ein Zeichen für „hier kann ich mich sicher fühlen“. Signale der Offenheit können Aushänge und Flyer in der Praxis sein, die explizit diese Themen aufgreifen und zeigen: Das ist präsent bei uns. Auch wenn im Aufnahmeformular „Person zu benachrichtigen“ anstatt „Ehemann“ steht, ist das ein gutes Zeichen für Menschen, die nicht in einer Hetero-Beziehung monogam leben. Mit der Aktion „Roter Stöckelschuh“, einem Aufkleber an der Praxistür, können Frauenärztinnen und Frauenärzte außerdem signalisieren, dass sich Sexarbeiterinnen in ihrer Praxis sicher fühlen können.

Wie können Patientinnen am besten ansprechen, dass sie sich unwohl fühlen?

Schumann-Doermer: Ein Zeichen für ein gutes Vertrauensverhältnis ist zum Beispiel, wenn man sagen kann: „Mir fällt es schwer mich untersuchen zu lassen, können wir uns erst einmal lange unterhalten und wenn möglich nicht untersuchen, oder erst beim nächsten Treffen?“ Es ist auch wichtig zu wissen, dass die Ärztin oder der Arzt nicht immer untersuchen muss, um eine gute Diagnose zu stellen. Beispielsweise beim Verschreiben der Pille ist die Untersuchung bei einer Person, die keine Beschwerden oder Schmerzen hat, nicht nötig. Das Gespräch ist eine Chance, um Vertrauen zu gewinnen. Es ist auch vollkommen okay, gerade für ein Erstgespräch eine Freundin oder den Freund mitzunehmen.

Welche Rolle spielt in der Praxis der sensible Umgang mit möglichen traumatischen Erfahrungen – insbesondere mit sexuellen Übergriffen – der untersuchten Person?

Schumann-Doermer: Das ist extrem wichtig! Es geht nicht darum, dass ich nur sensibel handele bei Menschen, von denen ich weiß, dass sie traumatisiert sind. Bei vielen Menschen weiß ich es nicht. Statistisch hat in etwa jede vierte Frau körperliche und/oder sexuelle Gewalt entweder von dem/der derzeitigen oder früheren Partner oder Partnerin erfahren. Diese Erfahrungen können traumatisierend sein. Viele Menschen wissen selbst nicht, dass sie betroffen sind, beispielsweise weil sie die Situation verdrängt haben. Deshalb bin ich bei jedem Menschen, der oder die in die Praxis kommt, sehr aufmerksam.

Was heißt das konkret?

Schumann-Doermer: Ich achte bei der Untersuchung auf die Körpersprache meines Gegenübers, auch wenn ich die Einwilligung zur Untersuchung bekomme. Sätze wie „entspannen Sie sich, gleich ist es vorbei“, oder „reißen Sie sich mal zusammen“ sind Standardsätze in manchen Praxen. Die können in einer traumatisierenden Situation von der Täterperson so gesagt worden sein. Dieser Satz könnte genau ein Trigger, also ein Auslöser sein, der alte und abgespaltene Gefühle wieder hervorruft. Auch der Satz „Sie sind aber ganz schön eng gebaut, es ist schwierig Sie zu untersuchen“ ist einfach nur so dahingesagt, kann aber für die Person bedeuten: „Ich bin vielleicht zu eng, ich werde nie guten Sex haben können.“ Natürlich können wir nicht immer sofort bemerken, wenn wir etwas auslösen, deshalb versuchen wir, sensibel zu sein für mögliche Folgen.

Welche Tipps haben Sie für Menschen, die sich in der gynäkologischen Praxis übergriffig behandelt gefühlt haben?

Schumann-Doermer: In der Situation selbst zu handeln, ist natürlich erst einmal schwierig. Man kann sagen, dass die Untersuchung aufhören soll. Das klingt banal, aber die Person kann danach versuchen, jemanden zu finden, bei dem sie oder er sich besser aufgehoben fühlt. Es muss nicht sein, dass sie sich jedes Mal, wenn sie zum Frauenarzt gehen, entblößt, gedemütigt oder beschämt fühlen. Wenn etwas vorgefallen ist, das etwa diese Bemerkungen oder Berührungen stattgefunden haben, können Sie sich konkret bei der Ärztekammer beschweren.

Wie viel wissen wir darüber, ob sexuelle Übergriffe in der gynäkologischen Praxis stattfinden?

Schumann-Doermer: Es gibt wenige Fälle, die bekannt sind und juristisch verfolgt werden. Häufiger als sexuelle Übergriffe schätze ich Situationen ein, in denen Ärztinnen und Ärzte Gefühle der Scham und des Unwohlseins nicht wahrnehmen. Genau deshalb braucht es diesen Leitfaden: Damit Frauenärztinnen und Frauenärzte sensibel agieren und die Bedürfnisse der untersuchten Personen sehen und respektieren.


Quellen:

  • EUROPEAN UNION AGENCY FOR FUNDAMENTAL RIGHTS: Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung, Ergebnisse auf einen Blick. Online: https://fra.europa.eu/... (Abgerufen am 12.04.2024)
  • Schumann-Doermer C., Gras C.: Leitfaden für die gynäkologische Unterleibs-Untersuchung, Zur Diskussion. Online: https://arbeitskreis-frauengesundheit.de/... (Abgerufen am 12.04.2024)
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Formen der Gewalt erkennen . Online: https://www.bmfsfj.de/... (Abgerufen am 15.04.2024)